Barfuss unterwegs

Deutschland ist verschnupft.
Im wahrsten Sinne, weil eine Erkältungswelle durch das Land rollt. Die nehme ich natürlich mit und erkälte mich! Wer ist schon gern Aussenseiter? Es hat etwas, die Welt kurzzeitig vom Bett aus einer anderen Perspektive zu sehen und von dem Mann, der mit mir leben darf, mit Medikamenten und Zuwendung versorgt zu werden.

Die junge Frau, die ich einen Tag vor meiner Erkältung an einer Haltestelle traf, erkältet sich sicher nicht. Mit Trenchcoat, weiten, knöchellangen Hosen bekleidet und einem modischen Rucksack auf dem Rücken stand sie wie ich und wartete auf den Bus. Einen hatten wir knapp verpasst, der nächste kam in 15 Minuten.
Ihre Füsse waren nackt!

November mit 5-8 Grad Aussentemperatur, Pfützen, Modder und Steine auf dem Weg und die junge Frau lief barfuss. Ich musste immer wieder hinschauen und als sich unsere Blicke begegneten, sprach ich sie an.
Ich fragte sie das, was viele andere vorher schon gefragt hatten, ob sie denn nicht friere? Nein, war die schnelle Antwort. Sie erzählte auf meine weiteren Nachfragen, dass sie Studentin sei und erst seit kurzem in Rostock Biowissenschaft studiere.
Sie kommt aus Gera in Thüringen und läuft seit dem Frühjahr barfuss durch die Welt.
Ich nahm an, dass es eine Wette war, aber nein, es war ihre Überzeugung. Sie hatte einen Artikel darüber gelesen und wollte es ausprobieren.
Barfußgehen sei eine großartige Möglichkeit, sich selbst und die Welt besser kennenzulernen, erzählte sie begeistert. Es ermöglicht, mit allen fünf Sinnen zu laufen. Jeder Schritt ist anders und fühlt sich anders an. Man spürt die Wärme der Sonne auf der Haut, den kalten Wind, den weichen Sand und die harten Steine.
Man bekommt ein viel besseres Gefühl für die Oberfläche, auf der man läuft, entdeckt die verschiedenen Untergründe neu und lernt, sich an die unterschiedlichen Bedingungen anzupassen.
Zu Anfang lief sie in der Wohnung barfuss, zum Briefkasten und zum Einkaufen. Sie steigerte sich langsam von Woche zu Woche und lernte achtsam zu gehen, passte auf, dass sie die Füsse nicht überforderte. Die Haut an den Fußsohlen musste sich an die Belastung gewöhnen, sie musste robuster werden. Zu Anfang hatte sie Muskelkater im Knöchel-Waden-Bereich. Das gehört jetzt alles der Vergangenheit an, lachte sie. Inzwischen war sie in den Bergen wandern, in vielen Städten unterwegs. Schwierig sind Wiesen wegen der Insektenstiche und Wiesenränder wegen der Hundehaufen! Ich fragte, ob sie mir ihre Fussohlen zeigen kann. Kein Problem! Die Haut war nicht rissig, da sich schon dünne Lederhaut gebildet hat. Kalte Füsse hat sie nicht mehr, muss sich aber auf kalten Böden immer bewegen. Die Pflege ist sehr wichtig und sollte der Weg wirklich zu schwierig werden, benutzt sie Barfussschuhe, die eine ganz dünne Sohle und keinen Absatz haben.
Der Bus kam um die Ecke und wir mussten das Gespräch abbrechen. Schade!
Ich wünschte ihr alles Gute und meinte, dass sie nie von einem Prinz gefunden werden wird, da sie keinen Schuh verlieren kann.
Wir lachten.

12 Kommentare zu „Barfuss unterwegs

  1. Du erlebst aber auch immer interessante Dinge – Menschen!
    In Barfuß-Socken oder Schuhen habe ich auch schon einige Leute gesehen.
    Aber ganz ohne noch nicht.
    Für mich unmögliche Vorstellung.
    Aber nur wer neugierig bleibt auf Umwelt und andere Lebensweisen, erfährt Neues, zum Nachdenken Anregendes.
    Lehrt mich Deine Geschichte! Danke!

    Like

    1. Warum unmögliche VORstellung? Dass du das nicht mitmachen würdest, ist klar.
      Einfach mal mit SEV fahren, da erlebst du auch viel, in Bahn, Bus und an Haltestellen. Die Welt ist bunt geworden 😉
      Danke und lieben Gruß!

      Gefällt 1 Person

      1. Da fahr ich ständig mit… Mir fehlen da oft die Worte und ein Kopfschütteln ist alles, was ich zustande krieg. 🫣

        Like

  2. Ah! Danke, dass Du gefragt hast und die Antworten mit uns teilst. Ich habe mich das nämlich noch nicht getraut, aber tatsächlich eine gewisse Philosophie dahinter vermutet. Dabei sind wir als Kinder auch barfuß unterwegs gewesen. Allerding nur von Frühjahr bis Herbst. Und in die Schule, in die Schule mussten wir in Schuhen gehen. Ganzjährig. Ich vermute, dass Kinder, die in Kirchen mussten, da auch Schuhe trugen

    Like

    1. Ich erinnere mich,
      dass wir als Kinder den ganzen Sommer barfuß liefen. Zumindest habe ich es so abgespeichert. Die restliche Zeit trugen wir ‚Jesuslatschen‘, eine Art Riemchensandalen, die tatsächlich nur einen Sommer hielten. Zur Kirche kann ich nichts sagen – Heiden-Kind🤷🏻‍♀️

      Gefällt 1 Person

  3. Vorab: gute und rasche Besserung!

    Ich bin 1974 vom Frühjahr bis zum späten Herbst barfuss gelaufen. Eine schöne Erfahrung. Damals rauchte ich noch Zigaretten und es war lustig, die Blicke anderer zu sehen, wenn ich barfuss die Stummeln austrat.

    In Südamerika lernte ich, dass Menschen, die barfuss gehen, sich also keine Schuhe „leisten können“, die Ärmsten im Lande sind.

    Schöne Grüsse
    Robert

    Like

Hinterlasse einen Kommentar