… wenn ich vom Bahnhof

komme, vom Kirchenplatz nach rechts in die Strasse schaue, sehe ich ein Haus, unser Haus und ein wohliges Gefühl durchströmt mich. Lange Zeit war mir nicht bewusst, wie privilegiert ich wohne: mitten im Ort, kurzer Weg zum Bahnhof, zum Wasser und zu EDEKA – ha ha! Nebenan wird zur Zeit ein Haus umgebaut und ich erinnere mich an die ersten Schritte beim Bau unseres Hauses.
1962 kaufte mein Schwiegervater das Grundstück und liess darauf ein Schaufenster für sein Geschäft am Kirchenplatz bauen, das er seit 1946 betrieb.
Auf dem Grundstück im hinteren Bereich befand sich ein verwohntes, fast schon verwahrlostes Haus, in dem Asoziale wohnten. Das soll nicht abwertend klingen, aber sie waren wirklich nicht zu überzeugen, in irgendeiner Form am sozialen Leben teilzunehmen. Das bisschen, was sie zum Essen brauchten, tranken sie. Hochprozentig.
Wovon sie gelebt haben, weiss ich nicht, da ich erst Ende der 70iger Jahre nach Warnemünde kam.
Beim Antrag auf eine eigene Wohnung hiess es, dass wir noch lange nicht dran seien: erst alleinstehende Mütter, Familien mit mehreren Kindern, Geschiedene und dann -eventuell- wir. Dieses EVENTUELL hätte Jahre dauern können und wir stellten deshalb einen Antrag auf Baugenehmigung eines Wohnhauses auf diesem Grundstück. Er wurde genehmigt. Das alte Haus stand schon längere Zeit leer.

Nun hatten wir beide als junges Paar, ab und an mit Helfern, längere Zeit jeden Abend und am Wochenende etwas vor: wir rissen das alte Haus ab, klopften den Mörtel bzw. Lehm von den Steinen, stapelten sie, um sie später wieder verwenden zu können.

War anstrengend, sehr anstrengend.
Ein Bauingenieur mit Kontakt in den Westen projektierte das Haus und noch heute könnte ich ihm dafür die ‚Füsse küssen‘. Er projektierte u.a. eine offene, grosse Küche, die gleichzeitig Wohnraum sein sollte mit Blick in einen ca 7x10m grossen Garten. Hier konnte das Leben spielen, allein, mit Familie oder mit Freunden. Offene Küche war damals noch nicht üblich. Einfach ein Geschenk!
Vor Baubeginn war der Kontakt zu den Nachbarn relativ normal, sicher nicht sehr eng, normal eben. Während und gegen Ende der Bauzeit verkehrten wir nur noch über Erich Honecker mit ihnen. Eine Eingabe jagte die andere! Sie freuten sich wahrscheinlich unbändig mit uns. Gerne hätte ich nachgefragt, aber, wie gesagt, Kommunikation über EH in Berlin. Für die Anfrage bzw. Antwort war mir das Porto zu schade. Die Eingaben waren Nichtigkeiten, die aber immer im Rat des Bezirkes abgeklärt werden mussten und einen Besuch der Bauaufsicht nach sich zogen. Bis ein Ergebnis vorlag, durfte nicht weitergebaut werden.
Das verlängerte die Bauzeit enorm.
Wir waren glücklich, dass wir Maurer gefunden hatten, die zusammen mit meinem Mann fast jeden Tag nach Feierabend in der Woche und am Wochenende arbeiteten. Sofern es möglich war. Die Versorgung der Truppe oblag mir. Sie hatten viel Durst, der mit Bier gestillt werden konnte. Dass einige Wände der Wasserwaage nicht standhalten können, nun ja, ist passiert. Es stört aber nicht das Lebensgefühl, nur dann, wenn man nachmisst. Wer macht das schon? Die Bilder hängen alle gerade!

Für den Hunger gab es Bockwurst mit Brötchen. Oder Brötchen mit Bockwurst. Es war der Wunsch der Maurer, dem ich gern nachkam. Am Wochenende kochte ich immer Eintopf, gehaltvoll mit viel Gemüse und Fleisch. Immerhin arbeiteten sie 10h! Das Fleisch zu besorgen war problematisch, aber es gelang mir. Ich kaufte Freibankfleisch, das einmal in der Woche in meinem Betrieb angeboten wurde. Sicher eines der ersten Joint Ventures zwischen Fleisch- und Fischkombinat! Ging aber nicht sehr lange, da der Verkauf fast unter dem Fenster der Betriebsleitung stattfand. Die lange Schlange störte sie beim Arbeiten und Denken. Vermuteten wir.
Freibankfleisch ist minderwertig, aber nicht gesundheitsschädlich. Es stammt von Tieren, die Unfälle hatten und notgeschlachtet werden müssen. Die Untersuchungen dieses Fleisches war und ist wesentlich gründlicher als bei Normalschlachtungen.
Vor dem kleinen Verkaufswagen standen immer lange Schlangen. Der Verkäufer hatte das Fleisch schon in kleine Pakete fertiggepackt. Er tastete, ungesehen von uns, mit seinen sensiblen Fingern das Paket ab und wusste, wie hoch der Knochen- bzw Fleischanteil war. Dann kam seine grosse Stunde! Der Verkauf erfolgte nach Gesicht und Sympathie. Seiner Sympathie. Wählen durfte man nicht. Eine attraktive Frau, die immer gute Pakete bekommen hatte, erwähnte einmal, dass sie auch ihren Hund mit dem Fleisch füttert. Ein ganz schlechter Beitrag! Alle Gespräche verstummten. Der Verkäufer schaute nur. Ab diesem Zeitpunkt bediente er sie nicht mehr.
Ich hatte Glück, das richtige Gesicht und deshalb so gut wie nie Knochen im Paket.
Für meine Kochkünste wurde ich gelobt, fast immer.
Einmal kam es auf dem Bau zu einem Zwischenfall.
Die Baubrigade hatte viel Durst. Immer. Sie tranken am liebsten Bier und meist eine Flasche ‚Blauer Würger‘ zum Abschluss der Arbeit. Das war ein preisgünstiger Wodka, der seinen Spitznamen dem blauen Etikett und dem Halskratzen beim Trinken verdankte.
An dem Tage kletterte einer der Mauerer nochmals die Leiter hoch, weil er etwas vergessen hatte, verlor das Gleichgewicht und fiel hinunter! Ein dumpfer Aufschlag, Schreck und ein erstickter Schrei! Wir wollten sofort einen Arzt holen, was er ablehnte. Schwarzarbeit wurde geahndet. Ihm gehe es gut, meinte er, als er aufgestanden war. Bei uns blieb ein ungutes Gefühl! Mitten in der Nacht kam seine Frau und sagte, dass ihr Mann nicht richtig atmen kann. Der nächste Schreck! Wir weckten einen befreundeten Arzt, der sofort mitkam und ihn untersuchte. Er hatte eine schwere Prellung, aber nichts gebrochen. Wir waren alle sehr erleichtert.
Ein grosses Problem beim Bau damals war die Baustoffversorgung, mit der alle zu kämpfen hatten, die bauten. Ein anderes, unendliches Thema …

Interessant, was ein normaler Blick in die Strasse und auf das Baugerüst beim Nachbar für eine Erinnerung auslösen kann.
Es ist November und es regnet. Der Regen prasselt gegen die Scheiben und der Blick in den Garten ist verschwommen.
Das Geräusch ist sehr entspannend. Ein Glas Wein könnte den Tag abrunden.
Immerhin habe ich gerade ‚Steine gekloppt‘, was auch in Gedanken anstrengend war.

10 Kommentare zu „… wenn ich vom Bahnhof

  1. Meine Eltern bauten von 1963-67 unter ähnlichen Bedingungen inclusive nachbarschaftlicher Eingaberitis. Man siehts an der Bauzeit.
    Wir „ließen bauen“ 1993 in der Bauboomzeit. Am Haus der verstorbenen Schwiegereltern. Und entdecken heute noch Pfusch von damals.
    Perfekte Eigenheime bewohnen nur Leute, die selber Inhaber von Baufirmen sind.
    Bei deinen Freibankfleicherläuterungen musste ich schmunzeln: Hatten wir auch auf dem Teller. Aber: Unser Foxl bekam auch welches. 🙂

    Die lustige Episode am Rande: Der Fleischer, der im Schlachthof die Freibanktheke unter sich hatte fürchtete meine Großmutter. Die hatte sich eines Tages als Fleischerwitwe bei ihm vorgestellt und kritisiert: „Sie wolln a Fleischer sein und schneiden quer zur Faser?!“

    Wenn Vater dann später welches abholte, kam IMMER die Frage: „Isses für de Muttor? – Moment!“ Dann schnitt er frisch zu.

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    1. Witzig, wie sich die Zeiten ähneln😜!
      Wir haben später -kurz vor Renteneintritt- nochmals aufgerüstet: Dach neu gedeckt, Heizung ausgewechselt und Haus isoliert. Und dann kam der Mann, der Kinderbücher schreibt und meint, FACHKRAFT zu sein🤮!!! Nochmals Heizung verändern?
      Erlebnisse beim Fleischer waren nicht immer lustig. Wir hatten einen hier im Fischerdorf, bei dem der erste Aufschlag zählte.
      Zu deutsch, es wurde alles mit Schwung auf die Waage geworfen und blitzschnell wieder runtergenommen.
      Der Fleischer fuhr das größte Auto im Dorf, weil er kräftige Arme hatte und wusste, dass Salz Wasser bindet😜
      Danke für deine Rückmeldung!

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  2. Steine haben ihre Geschichte. Du erzählst daraus und füllst einen Zeitabschnitt mit Erinnerungen aus deinem Leben. Gefällt mir. Ich kann mir die Perspektive vom Bahnhof kommend am Kirchenplatz nach rechts in die Straße schauend gut vorstellen.

    Steine kloppen in Gedanken kann wirklich anstrengend 😥 sein😉🍷
    Liebe Grüße

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    1. Stimmt!
      Workbalance eher weniger😜 … wie bei allen Dingen im Leben: Es braucht ein Ziel! Wenn das passt, werden ungeahnte Kräfte freigesetzt!
      Trotzdem war es eine sehr anstrengende Zeit …
      Danke für Kommentar und
      lg!

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