Der erste Glühwein

Die Woche beginnt mit einem Zahnarztbesuch. Wider Erwarten gibt es nach Ende der Behandlung keine Auflage, zwei Stunden nichts zu essen. Dann steht dem ersten Glühwein nichts im Wege. Allein trinken macht wenig Spass, deshalb Einladung an eine Freundin, deren Absage sofort kommt, da sie eine andere Einladung hat.
Egal, ich laufe die Kröpeliner Strasse an den Weihnachtsbuden entlang und stoppe am Weinstand vom Weingut MISSKAM.
„Weiß, Rot oder Rosé?“, fragt der Verkäufer. Ich wusste gar nicht, dass es auch Rosé-Glühwein gibt, entscheide mich aber für Rot. Noch ist der Weihnachtsmarkt recht leer und ich stelle mich an einen der ‚Stehtische‘, nachdem ich um Erlaubnis gebeten habe.
„Jederzeit und gerne länger“, lacht der Mann, der dort mit einem Becher Glühwein steht. Er hat einen richtigen, ganz dichten Rauschebart und lustige Augen. Schnell kommen wir ins Gespräch und ich erfahre, dass er früher Lokführer war. Er hat Schlosser gelernt, war dann beim BARRAS (…ähm, Sie wissen, was Barras heißt?) und schulte später zum Lokführer um. Seit einem Jahr ist er im Ruhestand, hätte weiterarbeiten können, aber er mochte nicht mehr die vielen jährlichen Nachweise erbringen. Der unregelmässige Dienst, oft Bereitschaft, Schichtdienst, nein- genug! Es war eine schöne Zeit, guter Zusammenhalt unter den Kollegen, doch- es hat Spass gemacht. Ihm wurde angeboten, die Strassenbahn zu führen, weil es dort weniger Prüfungen gibt. „Aber das kann man doch nicht mit einer Lok vergleichen!“, empört er sich sogar jetzt noch.
Er hatte so gut wie keinen Kontakt zu den Fahrgästen, nur dann, wenn er auf dem Bahnsteig stand, um Absprachen zu treffen. Einmal allerdings, in Bad Doberan, lief eine Frau vor den Zug, weil sie noch mitfahren wollte. Der Zug war gerade langsam angefahren und- hielt nochmals an. Sie tat ihm leid, wie sie mit den Armen wedelte, hin-und herrannte, und unbedingt noch mitfahren wollte. Die Frau gab dem Schaffner 10€ Trinkgeld und bedankte sich immer wieder. Eher ungewöhnlich.
Sein Becher ist leer und er verabschiedet sich. Schade, ich hätte noch mehr Fragen gehabt. Mein Becher ist noch halbvoll.

„Die Leute hier sind doch alle verrückt und 100 Jahre zurück, nicht zu glauben! Ich habe überall gelebt, in Afrika, Asien und Spanien, unmögliche Leute hier …“, schimpft eine Frau hinter mir und stellt sich dann an den Tisch. Ich sehe eine lebhafte, erregte, rothaarige Frau in einem Fellmantel. Ein grosser Hund, dem sie über den Kopf streicht, lässt sich neben ihr nieder.
Ich frage sie, was sie denn so wütend macht. Ja, meint sie, die wollten meinen Hund nicht an den Tisch lassen. Ich schaue auf diesen grossen, friedlichen Hund und denke, ja, gut, kann ich verstehen. Hunde wollen nie beissen, meist nur spielen. Weiss das der Hund auch?
Sie wühlt in ihrer Tasche und holt einen Pullover heraus, den sie dem Hund anzieht und meint dabei:“Man muss nicht teures Hundezubehör kaufen, ein einfacher Pullover tut es auch. Ausserdem sind das Naturfasern, kein Polyester. Der Hund spürt das.“ Interessant.

Dieser lässt alles ruhig über sich ergehen, kommt dann zu mir und beschnuppert mich.
„Der mag Sie, das sehe ich sofort!“, ruft sie euphorisch, „passen Sie bitte auf den Hund auf, bis ich mir einen Glühwein geholt habe!“ Da er nur schnuppert und nicht beisst, ist das kein Problem. Mein Becher ist inzwischen leer und da ich wissen will, wer diese junge Frau ist, hole ich mir nach ihrer Rückkehr einen zweiten Becher. Diesmal weiss.
Ja, sie ist aus Rostock, musste aus Berlin hierher ziehen, weil der Mann stark asthmakrank ist. In Berlin war alles viel besser und viel mehr los. Klar. Nur eben die Luft nicht. Die Leute viel freundlicher. Auch klar.
Warum sie nicht im Ausland geblieben ist, frage ich, da ist das Wetter doch sicher besser?
Sie sei Fotografin und wollte die ganze Welt kennenlernen. Studiert habe sie in Weissensee an der Kunsthochschule. Ob ich die Gruppe OSTKREUZ kenne und die Fotografin Ute Mahler? Vor einiger Zeit gab es darüber eine Ausstellung in der Kunsthalle und ich weiss deshalb Bescheid. Das überrascht sie. Was sie denn genau fotografiere und ob es eventuell Ausstellungen gibt, versuchte ich zu erkunden. Darauf geht sie nicht ein, erzählt nun von ihrem Mann, dem dritten, aus Guinea, der in der Nachwendezeit nach Berlin kam. Das war eine tolle Zeit für ihn! Er brauchte nicht arbeiten. Ob er denn jetzt arbeitet, wollte ich wissen. Er sei Fahrscheinkontrolleur bei der Strassenbahn. Seine Mutter hat Tiermedizin in Guinea studiert, hm, irgendwie geht jetzt alles durcheinander.
Plötzlich ruft sie laut einen Namen und eine andere Frau kommt daraufhin an unseren Tisch. Sie waren Kolleginnen und arbeiteten beide bei TK Maxx. Gerade will ich noch etwas fragen, da unterbricht sie mich und sagt, sie muss sofort los. Ihre Mutter wird heute 70 und sie sei ganz frisch verheiratet. Die Mutter. Ihren Mann lernte sie über eine Annonce im HAMBURGER ABENDBLATT kennen.
„Du kennst doch meine Mutter? Oder?“
Die Kollegin schaut irritiert und meint zu mir, dass sie sich gar nicht so gut kennen und die Mutter noch nie gesehen hat. So plötzlich wie die Frau auftaucht, verschwindet sie. Im Schlepptau den Hund im grauen Pullover.

Ich bleibe etwas ratlos zurück und überlege, was von dem Erzählten gestimmt haben könnte. Vielleicht überlegt es sich mit einem dritten Glühwein leichter?

Der frühe Abend ist noch lang und ein Platz am Stehtisch wieder frei …

10 Kommentare zu „Der erste Glühwein

  1. Ich bin von oben nach unten gewandert. Erst Eishockey geschaut und dann zum Glühweinstand geschlendert (prima geschrieben).

    Gerne hätte ich mit dir in diesem Jahr einen Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt in Rostock oder in Warnemünde getrunken. Sollte nicht sein. Nächstes Jahr, neue Chance.

    LG
    Helga

    Like

    1. Ja, schade!
      Aufgrund Krankheit/Urlaub wäre Besuch in Rostock etwas unglücklich gewesen. Deshalb- auf einen neuen Treff👍
      Weihnachtsmarkt in W. hat sich total gemausert und hätte dir gut gefallen.
      Gute restliche Zeit😘!

      Like

  2. Das habe ich sehr gern gelesen und bedaure, dass es bei uns in der Gegend keinen Glühweinstand gibt. Überhaupt keine Stehtische. Höchstens den Tresen in der Caffè-Bar, aber beim Caffè al Banco, im Stehen bzw. Vorbeigehen, kommt man auf die Superschnelle kaum ins Gespräch. 🤷‍♀️

    Gefällt 1 Person

    1. Der Glühwein „glüht“ und kann nur langsam getrunken werden😄
      In dem Fall war der Stehtisch ein Weinfass mit einer aufgelegten Platte, recht urig.
      Ja, es hat was, diese Tradition des Glühweintrinkens in der Vorweihnachtszeit👍
      Lieben Gruß!
      Jutta

      Gefällt 1 Person

  3. Man kann natürlich auch an der Theke einer Metzgerei ins Gespräch kommen. Man muss nur wissen, dass man das auch wollen kann.
    Schöne Begegnungen erlebst Du – mehr davon 🙂

    Nikolausgruss,
    Robert

    Gefällt 1 Person

  4. Da bin ich richtig neidisch, was Du für interessante Bekanntschaften machst am Glühweinstand! Sollte ich auch mal alleine probieren?!
    Sehr anregend geschrieben! Mein nächster Glühwein führt mich zu Misskam!

    Like

Hinterlasse einen Kommentar