Zugreise mit Bodo K.


Eine Kurzreise nach Hamburg ins Kunstmuseum steht diese Woche auf dem Plan. Das Deutschlandticket kommt damit auf einer längeren Strecke zum Einsatz. Frau Schwesig, unsere Landesmutter, sorgte dafür, dass alle Rentner in MeckPomm nur 29€/Monat dafür zahlen. Das gilt es auszunutzen, da keiner weiß, wie lange das die Landeskassen hergeben.
Anlass ist die Ausstellung zum 250. Geburtstag von Caspar David Friedrich in diesem Jahr. Mit Informationen über ihn wurden wir schon ‘zugeschüttet’. Nun gilt es, die Bilder aus dem Kopf in ‘echt’ zu sehen.

Ich mag es, mit dem Zug zu fahren, zu sehen, wie die Landschaft vorbeifliegt, genauso wie die Gedanken davonfliegen.

Das einlullende Geräusch der Räder weckt eine Erinnerung. Vor Jahren fuhr ich im Zug von Köln nach Rostock. Völlig aufgelöst und außer Atem saß ich im Abteil, da ich den Zug gerade so erreicht hatte und überlegte, ob ich erst etwas essen oder gleich in meinem SCHUNDROMAN von Bodo Kirchhoff weiterlesen sollte.

Der Hunger siegte.
Mir gegenüber saß ein Mann, der in einem Buch las, dessen Einband mir bekannt vorkam. Tatsächlich!
Auch er las den SCHUNDROMAN! Eine gute Möglichkeit, ins Gespräch zu kommen. Wir beäugten uns, fanden uns sympathisch. Im Laufe der nächsten Stunden sprachen wir über das Buch, über den Schreiber und über alles möglich Andere. Ich erinnere mich an eine kurzweilige Zugfahrt von knapp sechs Stunden.
Wochen später trafen wir zufällig in der Stadt aufeinander und diese unverbindliche Vertrautheit war sofort wieder da. Inzwischen war ein weiterer Roman ‚Die Liebe in groben Zügen’ erschienen, den wir unbedingt besprechen sollten, oder? Unbedingt.
Dieser Austausch fand nun bei einem Glas Wein in anderer Umgebung statt, ohne dass die Landschaft am Fenster vorbeiflog. Eine leichte latente, erotische Spannung baute sich auf, was auf den Inhalt des Buches zurückzuführen war, vermutete ich. Der Roman umfasst fast 700 Seiten. Es brauchte mehrere Treffen, um das Buch richtig zu verstehen.
Zu einer dritten Buchbesprechung kam es nicht, da mein Gegenüber nach Zürich zog. Er hatte eine europaweit ausgeschriebene Stelle in der forensischen Abteilung an einem Institut erhalten.
Schade- sein Weggang, nicht die neue Stelle.

In diesem Januar erschien ein neuer Roman von Bodo K. mit dem Titel ‘Seit er sein Leben mit einem Tier teilt’. Ich kaufte es sofort und habe es bei dieser Bahnreise dabei. Ganz klar.
Auf Nachfrage in der Frauengruppe, wer den Roman schon gelesen habe, kam zweimal der Hinweis, dass sie von ihm nichts mehr lesen, da Bodo K. arrogant sei. Frage stand, ob sie ihn persönlich kennen? Natürlich nicht, hatten es aber gehört. Von wem?
So entstehen Gerüchte!

Dieser neue Roman ist wie eine Offenbarung. Für mich.
Vier Tage aus dem Leben eines Witwers kurz vor seinem 75. Geburtstag, früher Schauspieler, der an einem See allein mit seiner Hündin lebt und Besuch bekommt von zwei Frauen, die Tochter und Enkelin sein könnten.

Durch ihre Anwesenheit und Fragen verändern sie seinen Blick auf sein Leben und seine Vergangenheit.
Der Journalistin, die ihn für einen Beitrag interviewen will, fühlt er sich sehr verbunden, stellt sich vor, was wäre, würde es zu einer engeren Verbindung kommen. Die junge Bloggerin, deren Wohnmobil streikte und sie unfreiwillig bleiben ließ, lässt ihn sein Alter spüren, weckt Sehnsucht. Als dritte Frau taucht später die Mutter der Bloggerin, Moderatorin einer Fernsehsendung, auf, unerwünscht von der Tochter und ihm.
Was dieses Buch für mich so interessant und lesenswert macht, ist die gefühlvolle Sprache, die selbstreflektierenden Gedanken, die Erinnerungen an seine Zeit als Schauspieler in Hollywood in typisch deutschen, nicht unbedingt sympathischen Rollen, der Umgang mit der Hündin und vor allem die Erinnerungen an die Zeit mit seiner Frau, einer erfolgreichen Tierfotografin. Seine Analyse und der Bezug zu seinem jetzigen Leben faszinieren mich.
Ein Buch, das ich immer wieder weglege und mich meinen Gedanken überlasse, innerlich abgleiche.
Das zarte Nähern an die Journalistin, seine Sehnsucht nach einem Menschen, der ihn tief in seinem Inneren erkennt, lässt bei mir die Frage aufkommen, ob auch ich das wirklich wollen würde, ein Blick in Abgründe, fremde und die eigenen?
Es ist nicht einfach, dieses Buch in Worte zu fassen.
Noch habe ich es nicht ausgelesen, teile es mir in ‚Lese-Rationen‘ ein, um das Lesevergnügen zu verlängern.

Hamburg naht und damit steigt die Vorfreude auf zwei erlebnisreiche Tage. Getrübt nur durch die kurzfristige Ansage:
Streik des öffentlichen Nahverkehrs!
Der Alltag holt mich schnell ein. Immer.

4 Kommentare zu „Zugreise mit Bodo K.

  1. Lesen und Bekanntschaften auf Zugreisen. Ein spannendes Thema. Da fällt mir spontan der finnische Film „Abteil Nr.6“ ein. Auf den ich mich am Wochenende freue.
    Melancholisch werden kann man bei der Lektüre von „In der Bahnhofsgaststätte“ von Guido Fuchs. Darin wird eine untergehende Kultur beschrieben.

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    1. Danke für den Tipp!
      Da ‘steige’ ich heute Abend ein und lass mich überraschen!
      Bei Bahnhofsgaststätten erinnere ich mich besonders an die auf dem Hauptbahnhof in Leipzig und die damit verbundenen Begegnungen. Danke für Tipp auch hierfür!
      LG

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  2. Hm. Klingt interessant, das zuletzt erwähnte Buch. Und sofort fallen mir STS ein, mit „Wenn was gewesen wär“ oder auch Georg Danzer mit „Stau auf der Tangenten“. Der Autor scheint die gleiche Musik zu mögen, wie ich. Oder aber er hat „Abend mit Goldrand“ von Arno Schmidt wenigstens angelesen und sich gedacht: Ich brech die schwierige Konstruktion des Kultbandes mal etwas lesbarer herunter. Was ich für ein löbliches Unterfangen halten würde.

    http://www.youtube.com/watch?v=Vk3-avm0KM0

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