Pfandflaschen und Altpapier

Wir rennen zum Zug. Noch zwei Minuten bis zur Abfahrt- geschafft! Noch ist der Zug leer und wir setzen uns ans Fenster, werden aber nicht hinausschauen, sondern ein Buch aus der Tasche kramen. Vergessen! Ich habe mein Buch vergessen.
Ich sehe die Frau schon von weitem kommen. An jedem Abfallbehälter hält sie an, öffnet ihn, schaut hinein, nein, wieder keine Pfandflasche. Da ich ab und an mit dem Zug fahre, erkenne ich sie. Sie ist schmal, unauffällig gekleidet, hat zwei Stoffbeutel in der Hand. Noch sind sie leer. Wir lächeln uns kurz an, bevor sie weitereilt.
Der Zug ruckt an, fährt am Hafen vorbei Richtung Stadt. Nun, da ich kein Buch habe, kann ich mich in mein Gedankenkarussell setzen und meinen Erinnerungen überlassen.

Wie so oft, wenn ich die Flaschensammler sehe, überkommt mich ein eigenartiges, undefinierbares Gefühl aus Trauer, Scham, aber auch von Ausgelassenheit.
Auch wir lebten einige Zeit vom Sammeln der Altstoffe.
Es war in den sechziger Jahren, als wir vom Dorf in die Stadt zogen. Die Eltern waren gerade geschieden und wir fünf Kinder bekamen zusammen mit meiner Mutter eine neue Wohnung in der Kreisstadt. Es war eine Neubauwohnung mit fliessend warmem Wasser und Zentralheizung. Vom Dorf in die Stadt – von Kohleheizung zur Zentralheizung. Ein Glücksfall!
Die Wohnung auf jeden Fall, aber das Leben in der Stadt war nicht so einfach wie auf dem Dorf, wo jeder jeden kannte.
Der Bäcker und auch die kleine HO schrieben an, wenn das Geld knapp war. „Die Mutti bezahlt selber!“, sagten wir Kinder und bekamen die Lebensmittel auf Pump. Das war nicht ungewöhnlich und wir waren beileibe nicht die Einzigen, die anschreiben liessen.
Das fiel in der Stadt weg, denn dort gab es die ersten Kaufhallen. Nicht nur die Geschäfte fielen weg, nein, auch die Gärten in unmittelbarer Nähe des Dorfes. Nun fehlten auch die „selbstgepfückten“ BIO-Produkte aus fremden Gärten und von den Feldern wie Möhren und Kartoffeln. Schwierige Zeiten brachen an.
Wir hatten teilweise wirklich ganz wenig zu essen, bis meine Schwester die Idee hatte, Altstoffe zu sammeln. Eine Tätigkeit, die ich verabscheute und ablehnte. Schon in der 4.Klasse stand in meinem Zeugnis, dass ich eine liebe, stille Schülerin sei, aber bei den Altstoffsammlungen inaktiv! Als Junger Pionier sollte jeder für 5 Mark Altstoffe sammeln und mit Quittung in der Schule abgeben. Das schaffte ich nie. Wir lasen keine Zeitungen und getrunken wurde in der Kneipe. Also auch keine Flaschen.
Aus Glas.
Meine beiden Schwestern übernahmen es, bei fremden Leuten zu klingeln und zu fragen, ob sie Altpapier und Flaschen haben. Nach der Schule gingen sie los und sammelten soviel, dass es nach Abgabe auf der Annahmestelle meist für Brot und etwas Aufstrich am Monatsende reichte. Wenn es damals bei uns DIE ZEIT mit ihren 160 Seiten, die vielen anderen Illustrierten und die Weintrinker gegeben hätte, dann wären die Mahlzeiten üppiger ausgefallen.
Eine meiner Schwestern brachte eines Tages Lebensmittel nach Hause, die sie nicht vom Sammelgeld gekauft haben konnte. Keiner fragte nach, woher die kamen, trotzdem wussten wir, dass das Mädel geklaut hatte. Es war ihr einfach so unter die Jacke gerutscht, meinte sie, kann doch passieren, oder?
Wir lachten alle.
Meine Mutter arbeitete später als Kranfahrerin im Stahlwerk, schrieb für die Sächsische Zeitung kleine Artikel und die Alimente kamen regelmässiger, so dass sich die Situation verbesserte. Bei meiner Schwester und ihrer Freundin verirrten sich aber immer wieder Dinge unter den Jacken, die inzwischen nichts mehr mit Lebensmitteln zu tun hatten. Ganz plötzlich war es damit vorbei. Sie sagte nie, wer ihr ins Gewissen geredet hat.

Es bedrückt mich, wenn ich sehe, wieviele Menschen heute Flaschen sammeln, wie sie sich bemühen, ihre Armut zu verbergen. Es kostet Überwindung, im Müll anderer Menschen zu wühlen. Aber irgendwann wird die Scham von ihnen überwunden.
Auf der Rückfahrt ist es ein Mann, der nach Flaschen sucht. In den Abendstunden kommt meist mehr zusammen.
Seine Tragetasche ist heute schon gut gefüllt.

8 Kommentare zu „Pfandflaschen und Altpapier

  1. Vom Pfand in den Mund. Könnte man sagen. Dein persönliches Beispiel zeigt, dass es auch anders gehen kann, wenn man es anders macht. Leider leben wir jedoch in einem Hochanspruchsland. Und zwischen hohem Anspruch und der entsprechenden Leistungsbereitschaft klafft meistens eine tiefe Kluft. Nicht immer und nicht bei allen Betroffenen. Die Ausnahmen bestätigen jedoch die Regel.

    Unser seit langen Jahren deformiertes Sozial/Renten/System will nicht untergehen. Und keiner traut sich, das System grundlegend zu reformieren. Dieses System hat ein zigarrerauchender dicker Mann erfunden. Damals in der dunkelbraunen Zeit. Für den Vierjahresplan und die erzwungene Vollbeschäftigung hat es gepasst. Dass man es nach dem 45er Untergang einfach weitergeführt hat mit minimalen Korrekturen war kurzsichtig. Der kleine dicke Mann wird medial noch als Vater des … gefeiert. Dabei haben Historiker diese „sozialmarktwirtschaftliche Figur“ längst enttarnt und entlarvt.

    Das Rentensystem funktioniert spätestens seit 1966 nicht mehr. Jeden Monat wird gegen das Gesetz bzw. die Regelungen der Bundeszuschüsse verstossen. Von allen Regierungen in all den Jahren. Geändert wird natürlich nichts. Zu viele (politische )Beamte hätten davon erhebliche Nachteile. Um das nicht verbeamtete Volk kümmern sich solche Politiker ohnehin nicht.

    Gesetzt, mein Geld würde nicht mehr ausreichen für meine Notdurft, ich bezöge meinen Arbeitsplatz an einem Flughafen. In Frankfurt kosten die Gepäckkarren 2 € Leihgebühr. Bei der Rückgabe gibts das Geld zurück. Vor einigen Jahren hatte man mich an jenem Flughafen versetzt. Ich musste warten. Was tun? Ich sprach Fremde an Taxis an, ob ich Ihren Gepäckwagen haben dürfte. In einer knappen Stunde hatte ich 20€ in der Tasche…

    Schöne Grüsse
    Robert

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    1. Danke für deinen ausführlichen Kommentar!

      Ich gestehe, dass ich mich erst einmal kundig machen musste über den Vierjahresplan von 1936 und unser Sozial/Renten/System, das in keinster Weise gerecht ist.

      Der ‚Flughafen‘ -Nebenjob wäre heute keine Option mehr, die Konkurrenz ist zu groß …

      Schönen Gruß! Jutta

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  2. Ja, das ist die schreiende Schande. Ein Arbeitnehmer des Billiglohnsektors muss in der Rente „aufstocken“ und somit neben einem Dauer-Hartzer hocken, der sich durchgeschummelt hat, um den Antragsterror zu überstehen. Ursache: Ein Rentenrecht aus den 50ern, nie modernisiert, aber noch einmal heruntergerechnet von einer rot-grünen Regierung: Es ist Schröders „Verdienst“, die Altersarmut befeuert zu haben.

    Die nichtgemachten Hausaufgaben der Politik häufen sich zum Turm.

    (Aber ich schweig jetzt. Ich eck ja immer an, wenn ich auf so’was hinweise. )

    „Alles prima, echt irre, toll prima Klima!!“ Thommie Bayer)

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  3. Danke für Deinen sehr guten Beitrag, einmal dafür, dass Du teilhaben lässt an Deinem Leben, Deiner Kindheit und auch sanft den Finger auf eine Wunde in unserer Gesellschaft legst. Das macht mich betroffen, obwohl ich das doch vielmals gesehen habe. Und sehr oft sind es alte Menschen. Hier kann ich nicht mit Spässchen ansetzen und sagen, weiter gehts, lustig sein. Nachdenken und trotzdem dankbar sein, für das, was man hat.

    Schöne Ostern!

    Rita

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    1. Schöne Ostern auch für euch und eine gute Zeit in Berlin!
      Diese „Wunde“ in der Gesellschaft wird immer größer und beginnt zu „eitern“, wenn nichts geschieht.
      LG

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  4. Das ist die Welt jenseits der teuren Hotels. Ich sehe die Sammler in den Zügen und an Bahnhöfen auch fast täglich. Gut beschrieben mit der Verknüpfung der eigenen Erinnerung. Schöne Ostern, liebe Jutta.

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